Flexibles Referenzmodell zur Planung und Optimierung der Produktion (Teil 2) - Generierung digitaler Fabrikmodelle durch den digitalen Zwilling

Jürgen Köbler, David Wußler, Michael Schlecht, Sarah Kirchenbaur, Roland de Guio, Max Blöchle und Benedikt Schwaiger

In dem ersten Teil dieses Beitrags, welcher in der Industrie 4.0 Management Ausgabe 5/2021 erschienen ist, wurde das Referenzmodell bereits in seinen wesentlichen Grundzügen erläutert [1]. Im zweiten Teil soll die Weiterentwicklung zu einem flexiblen Referenzmodell aufgezeigt werden. Der Fokus liegt auf die Implementierung von weiteren Planungstools, und die Implementierung von KI-Tools zur Erreichung eines dynamischen Produktionsengineerings in Form einer ganzheitlichen und integrierten Fabrikplanung.

Das in [1] erläuterte und in Bild 1 dargestellte generische Referenzmodell sieht die Implementierung von Daten aus betrieblichen Informationssystemen in Produktions-unternehmen vor. Über Schnittstellen werden die Daten aus den betrieblichen Informations-systemen extrahiert, entsprechend transformiert und stehen dann für eine automatische Modellgenerierung für diverse Expertentools wie z. B. für ein Produktionssimulationsprogramm zur Verfügung. Nach der Simulation können die Ergebnisse von Fachexperten ausgewertet werden.
 
Im Verlauf des Forschungsprojekts VIRTFac wurde das Referenzmodell zu einem funktions- und leistungsfähigen Demonstrator weiterentwickelt und ausführlichen Tests unterzogen. Zur Prüfung der Robustheit wurde der Demonstrator mit industriellen Produktionsdaten getestet und verifiziert.
 


Bild 1: Generisches Referenzmodell mit Kollaborationsplattform.

 
Unternehmen haben jedoch unterschiedliche betrieblichen Informationssysteme im Einsatz, die aus diversen ERP-, MES- und PLM-Softwarekombinationen bestehen können. Um den Demonstrator nicht nur für eine unternehmensspezifische Softwarekonstellation anwenden zu können, wurde eine Fortentwicklung des Demonstrators durchgeführt.
 

Generelle Weiterentwicklung des generischen Referenzmodells

 
Die Fort-/Weiterentwicklung besteht aus drei grundsätzlichen Arbeitsinhalten:

 

  1. Fortentwicklung hinsichtlich der besseren Anbindung unterschiedlicher betrieblicher Informationssysteme wie beispielsweise verschiedener ERP- und MES-Systeme 
  2. Flexible Erweiterung hinsichtlich der Einbindung von zusätzlichen Planungstools und verschiedene Tools der statischen Layout-Analyse sowie der dynamischen Simulation
  3. Überführung sowie Harmonisierung der Ergebnisse der Planungstools in eine gemeinsame Datenbank zur weiteren Auswertung und Erkenntnisgewinnen durch BI-Anwendungen und künstlicher Intelligenz

 

  1. Flexible Erweiterung von diversen betrieblichen Informationssystemen

 
Das generische Referenzmodell bietet in dieser Weiterentwicklungsstufe die Möglichkeit, unterschiedliche Datenstrukturen aus den heterogenen betrieblichen Informationssystemen durch eine entsprechende Auswahl zu erfassen, und in die Plattform automatisch zu implementieren (Bild 2). Dadurch bleibt die Nutzung des Referenzmodells nicht auf einzelne bzw. spezifische betriebliche Informationssysteme von einzelnen Anbietern begrenzt und ist damit eine flexible anbieterneutrale Plattform.
 

  1. Flexible Erweiterung von zusätzlichen Planungstools

 
Genauso erweiterungsfähig ist die Plattform hinsichtlich der Planungstools gestaltet. Auch hier sieht die Plattform grundsätzlich die Möglichkeit der Einbindung von weiteren Tools vor. Damit ist auch hier eine Modellerweiterung in der zusätzlichen Einbindung und Anwendung von weiteren Planungstools gegeben. Zum gegenwärtigen Stand kann durch die Plattform auf das statische Layoutwerkzeug visTABLE sowie die Simulationsumgebungen Plant Simulation und auf das Open-Source-Simulationswerkzeug Simpy zugegriffen werden.
Hier kommen nun der modulare Aufbau des Modells und der Vorteil der Verwendung einer Kollaborationsplattform in Form von einer zentralen Datendrehscheibe in Erscheinung. Durch die Vielzahl vorliegender standardisierter Schnittstellen können weitere Quell- und Zielsysteme miteinander verbunden werden. Wobei die Kollaborationsplattform die technische Umsetzung durchführt, während das Referenzmodell die sachlogische Verknüpfung herstellt. Für die Umsetzung des Datenmanagements und der Kollaboration wird das BI-Tool KNIME verwendet. Der Zusammenhang der einzelnen Bausteine ist dabei in Bild 2 ersichtlich.
 


Bild 2: Erweitertes flexibles Referenzmodell mit Kollaborationsplattform.

 

  1. Rückführung von Daten und Überführung der Simulationsergebnisse in BI-Anwendungen

 
Mit dieser grundlegenden Erweiterung besteht die Möglichkeit Ergebnisse aus den einzelnen Planungstools weiter zu verarbeiten und zu nutzen. So können die Ergebnisse aus einem Planungstool wieder in die Input-Datenbank zurückgeschrieben werden, welche als neue Ausgangsdaten für weitere Simulationen den Fachexperten zur Verfügung stehen (Bild 3). Somit können spezifizierte Simulationsergebnisse im ersten Loop vom jeweiligen Planungstool durch die Durchführung von weiteren Experimenten verfeinert und optimiert werden. Es werden somit spezifische aber jeweils für sich isolierte Expertenergebnisse erzielt.
 
Um dies zu verdeutlichen, werden hier zwei konkrete und im Rahmen von VIRTfac publizierte Anwendungsfälle gelistet. In [2] wurde durch die Kopplung von systematischen Experimenten in automatisiert generierten Simulationsmodellen und genetischen Algorithmen die Optimierung der Auftragsreihenfolge mit dem Ziel eines guten Balancing und einer möglichst hohen Auslastung für eine Montagelinie durchgeführt. In [3] wurden durch die systematischen Experimente große Datenmengen erzeugt und diese durch die Methoden von Big-Data ausgewertet. So konnten in einem industriellen Fall eines Remanufacturing-Systems die Durchlaufzeit und Produktivität für ein gegebenes Set von Produkten durch eine intelligente Auftragsterminierung wesentlich verbessert werden. Beide Arbeiten wurden auf Basis der in [1] beschriebenen Datenbasis und Methoden zur automatisierten Modellgenerierung durchgeführt. Die Analysen fanden unabhängig voneinander statt.
 
Im zweiten Loop, wie in Bild 3 zu sehen ist, können die Daten einer BI-Anwendung überführt werden. Hier können die Stärken der BI-Anwendungen zu Nutzen gemacht werden, indem Datenanalysen und -visualisierungen auf die Ergebnisdaten angewendet werden, um Korrelationen zwischen den Ergebnissen der verschiedenen Planungstools zu erkennen.
Mithilfe einer den Planungstools übergreifenden simulationsbasierten Optimierung können Kennzahlen unter Einbeziehung der Zusammenhänge zwischen den Ergebnissen verschiedener Planungstools ausgewertet und optimiert werden. Mit den bisherigen Methoden ist es üblich Experimentreihen durchzuführen, indem Simulationen mit verschiedenen Eingangsparametern durchgeführt werden und deren Einfluss auf die Ergebnisdaten analysiert werden. Bei vielen Eingangsparametern und großen Parameterintervallen stoßen Experimentreihen oft an ihre Grenzen, da die Anzahl der Simulationsvarianten exponentiell ansteigt und die benötigte Dauer für alle Simulationsreihen gegen unendlich strebt.
Um optimale Eingangsparameter zu finden, integriert das Forschungsprojekt VIRTFac verschiedene Algorithmen. Je nach Wahl des Algorithmus wird sich einer optimalen Lösung iterativ angenähert, indem die Ergebnisse jedes Simulationsdurchlaufs mit den eingesetzten Eingangsparametern neu bewertet und dementsprechend ausgerichtet werden. Genetische Algorithmen und das Reinforcement-Learning sind zwei geeignete Algorithmen, die in dieser Problemstellung eingesetzt werden können.
 


Bild 3: Erweitertes flexibles Referenzmodell mit BI-Anwendungen.

 
Anwendungsszenarien

 
Konnten die Ergebnisse einer Produktionssimulation beispielsweise die Durchlaufzeiten, Bestände und Variantenflexibilität (EPEI-Kennzahl) generiert und einzeln optimiert werden, so sind diese jedoch mit den Ergebnissen aus dem Fabrikplanungstool nicht in Beziehung gesetzt. Somit finden sich die Ergebnisse aus Layoutänderungen nicht in dem Produktionssimulations-tool wieder und umgekehrt auch nicht. Es sind voneinander unabhängige isolierte Einzelergebnisse.
Hier können dann durch das BI-Tool isolierte Ergebnisse aus zwei Expertentools miteinander kombiniert und in sinnvolle Beziehungen gesetzt werden. Damit können Forschungsfragen beantwortet werden, wie z. B. was die kürzeste Durchlaufzeit bei niedrigsten Beständen, bei maximaler Variantenflexibilität und bei einer geringsten Materialtransportintensität aus dem Fabriklayouttool ist. Solche neuen Ergebnisse konnten bisher aus den isolierten Experten-ergebnissen nicht zusammenhängend generiert werden. Es entsteht eine neue Planungs-möglichkeit in Form einer kombinierten dynamischen Produktions- und Fabrikplanungs-optimierung auf einem wesentlichen höheren Engineering Level.
 
Durch das flexible Referenzmodell können aus den in [4] erwähnten Offline-Modellen Near-Time-Modelle erzeugt werden. Somit kann dem schleichenden Veränderungsprozess, dem ein Produktionsunternehmen ja permanent unterliegt, planerisch bereits in einer frühen Phase entgegengewirkt werden. Beispielsweise in Form einer Layoutanpassung, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht erkannt wird. Weiterhin wird das Engineering von einer zeitaufwändigen Ist-Daten-Erfassung und Neuaufbereitung in den Simulationsmodellen weitgehend entlastet.
Durch den Loop 3 ist es auch wieder möglich optimierte Daten aus den Planungstools in die betrieblichen Informationssysteme zurückzuschreiben. Außerdem ist durch die Möglichkeit sich zu jeder Zeit wieder an die betrieblichen IT-Systeme andocken zu können, die Erstellung von Simulationsmodellen in Near-Time und auch in Echtzeit möglich.

 
Ausblick

 
Der entwickelte Demonstrator wird mit realen Industriedaten weiter validiert und zu einer robusten Kollaborationsplattform weiterentwickelt. Weiterhin sollen auch mit den KI-Tools zahlreiche Experimente durchgeführt werden, um hier die Wechselwirkung zwischen den isolierten Expertenergebnissen aus den einzelnen Planungstools miteinander kombinieren zu können und ein dynamisches intelligenteres Engineering zu ermöglichen.
 
Diese Forschung wird im Rahmen des Projekts Nr. 3.11 "Virtual Innovative Real Time Factory" (VIRTFac) der Science Offensive durchgeführt, das durch das Programm Science Offensive der trinationalen Metropolregion Oberrhein, das Programm INTERREG V Oberrhein und den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) der Europäischen Union finanziell unterstützt wird.

Schlüsselwörter:

Digitales Engineering, Digitaler Zwilling, Flexibles Referenzmodell, Simulationsbasierte Optimierung, Data Engineering, flexible Kollaborationsplattform

Literatur:

[1]         Schlecht, M. u. a.: Flexibles Referenzmodell zur Planung und Optimierung einer Produktion (Teil 1). In: Industrie 4.0 Management (2021) 5, S. 53-56. DOI: 10.30844/I40M_21-5_S53-56.
[2]         Schlecht, M.; Berger, S.; Wußler, D.; Haun, M.; Köbler, J.: Optimierung der Reihenfolgeplanung: Integration von maschinellem Lernen und generischen Materialflussmodellen. In: Zeitschrift für wirtschaftlichen Fabrikbetrieb 117 (2022), S. 9-13. https://doi.org/10.1515/zwf-2022-1005
[3]         Skoogh, A.; Perera, T.; Johansson, B.: Input data management in simulation – Industrial practices and future trends. In: Simulation Modelling Practice and Theory 29 (2012), S. 181-192. doi: 10.1016/j.simpat.2012.07.009.
[4]         Bohács, G.; Semrau, K. F.: Automatische visuelle Datensammlung aus Materialflusssystemen und ihre Anwendung in Simulationsmodellen. In: Logistics Journal (2012). DOI: 10.2195/lj_NotRev_bohacs_de_201201_01.