Gestaltung wandlungsfähiger Produktionssysteme
Ganzheitliche Identifikation und Analyse wandlungsbeeinflussender Faktoren

Horst Meier, Dieter Kreimeier, Julia Velkova und Stefan Schröder

Interne und externe Wandlungseinflüsse sowie die stetige Auseinandersetzung sowohl mit kontinuierlichem als auch mit diskontinuierlichem Wandel stellen viele Unternehmen vor große Herausforderungen. Die Optimierung von Produktionssystemen hinsichtlich wechselnder Anforderungen, ausgelöst durch eine Vielzahl unternehmensspezifischer Einflussfaktoren, wird für den Unternehmenserfolg immer relevanter. Im Rahmen dieses Beitrags wird ein Konzept vorgestellt, mithilfe dessen systematisch unternehmensspezifische Wandlungsfaktoren identifiziert und analysiert werden können.

Die ständig wechselnden Anforderungen im Umfeld produzierender Unternehmen implizieren die Notwendigkeit zur kontinuierlichen Weiterentwicklung der Produktion [1, 2]. Die hieraus resultierenden Handlungsbedarfe münden in einem Wandel von Produktionsparadigmen. Insbesondere im Bereich der Organisation und des Produktionsmanagements erfolgt ein Paradigmenwechsel von der flexiblen Produktion zu einem wandlungsfähigen Unternehmen [2]. Der Aspekt der Wandlungsfähigkeit wird bereits seit einigen Jahren als ein zentraler Erfolgsfaktor für die zukunftsfähige Fabrik gewertet [1]. Nach Wiendahls Auffassung bezeichnet Wandlungsfähigkeit das Vermögen einer ganzen Fabrik, sich auf verändernde Anforderungen reaktiv oder proaktiv umstellen zu können [3]. Aufbauend auf diesem Verständnis wird die Wandlungsfähigkeit folgendermaßen definiert: „Wandlungsfähigkeit kennzeichnet das Potenzial einer Fabrik, durch system- und strukturimmanente Wandlungsbefähiger, reaktiv oder proaktiv eine zielgerichtete Neu- oder Rekonfiguration der Wandlungsobjekte auf allen Systemebenen bei geringem Aufwand durchführen zu können, um die interne und externe Effizienz der Fabrik zu erhöhen oder zu erhalten.“ [4] Im Gegensatz zur Flexibilität wird die Wandlungsfähigkeit als Potenzial verstanden, auch jenseits eines vordefinierten Handlungsspielraums notwendige Veränderungen durchführen zu können [5].


Bild 1: Wandlungsfaktoren.

Problemlage in der Industrie und Handlungsbedarf

Die Unternehmen des produzierenden Gewerbes am Standort Deutschland sind im globalen Wettbewerb einem zunehmend dynamischen und turbulenten Produktionsmarkt ausgesetzt [6]. Neben unvorhersehbaren Einflüssen wie der Wirtschaftskrise haben Marktanforderungen nach höherwertigen Produkten, ungeplante Auftragsschwankungen, stetig steigender Kostendruck und die Individualisierung der Kundenwünsche starke Effekte auf heutige Unternehmen [7, 8]. Eine Vielzahl bereits bekannter Wandlungstreiber wie technische Innovationen oder globale Wettbewerber verursachen immense Auswirkungen auf die Produktionssysteme von Unternehmen [9]. Diese Einflüsse lassen sich in interne und externe Treiber differenzieren. Beispiele für externe Einflüsse sind Markt, Umwelt und soziale sowie politische Faktoren. Interne Einflussfaktoren werden beispielsweise durch Mitarbeiter, Produkte und betriebliche Vereinbarungen repräsentiert. Sie entstehen innerhalb eines Unternehmens [10]. Die Identifikation unternehmensspezifischer sowohl interner als auch externer Wandlungstreiber ist grundlegend notwendig, um auf diese optimal durch Bereitstellung geeigneter Wandlungsmaßnahmen reagieren zu können [8]. In Anlehnung an Wiendahl u.a. [2], der Wandlungsfähigkeit beeinflussende Faktoren in Treiber, Hemmer und Befähiger differenziert, wurde im Rahmen des vom Bundesministeriums für Bildung und Forschung geförderten Verbundprojekts „WamoPro – Wandlungsfähigkeit durch modulare Produktionssysteme“ in Zusammenarbeit mit einem Konsortium aus Industrieunternehmen und interdisziplinär aufgestellten Forschungseinrichtungen ein hiervon abweichender Definitionsansatz erarbeitet. Hierbei erfolgt eine Differenzierung hinsichtlich Wandlungsauslösern, -treibern, -befähigern und -hemmnissen.

Das neue Verständnis für Wandlungsfaktoren

In Bild 1 ist das erneuerte Verständnis für Wandlungsfaktoren und deren Abhängigkeiten zueinander grafisch dargestellt.

In diesem Verständnis entspricht ein Wandlungsauslöser einem Impuls auf das betrachtete Produktionssystem und stellt somit einen Initiator des Wandels dar. Dabei kann dieser Impuls sowohl einmalig als auch konstant auftreten und durch externe Einflüsse, z.B. durch Technologieentwicklungen, oder interne Einflüsse, z.B. durch Mitarbeiter, initiiert werden.

Das Verständnis von Wandlungstreibern unterscheidet sich durch die Erweiterung um den Faktor Wandlungsauslöser insbesondere von der bereits etablierten Definition nach Wiendahl u.a. [2]. Wie in Bild 1 zu erkennen ist, stellt ein Wandlungstreiber nach dem neuen Verständnis eine Reaktion auf einen Wandlungsauslöser dar. Ein Wandlungstreiber kann beispielsweise ein Mitarbeiter sein, der einen bestimmten Wandel im Unternehmen fördert oder voranbringt.

Wandlungsbefähiger und -hemmnisse treten sowohl intern als auch extern auf und stellen Rahmenbedingungen dar, die eine Reaktion auf Veränderungsanstöße und Veränderungsprozesse ermöglichen bzw. beeinträchtigen. Beispiele hierfür sind die finanziellen Mittel eines Unternehmens oder die Qualifikationsstruktur der Mitarbeiter.

Um wandlungsfähig zu sein, ist es daher notwendig, nicht nur wandlungsauslösende Faktoren zu identifizieren, sondern auch entsprechende Wandlungstreiber bereitzustellen. Alleine durch diese Vorgehensweise ist es möglich, auf entsprechende Veränderungen in angemessener Zeit reagieren zu können. Zusätzlich bieten Wandlungsbefähiger und Wandlungshemmnisse das Potenzial, Auskunft über die Reaktionsmöglichkeiten auf Wandlungsbedarfe zu geben.

Konzept zur Identifikation von Wandlungsfaktoren

Die Identifizierung und Analyse unternehmensrelevanter Einflussfaktoren des Wandels bildet die Basis zur Realisierung eines wandlungsfähigen Produktionssystems. In diesem Zusammenhang ist es jedoch erforderlich, zunächst alle Einflussfaktoren unabhängig von ihrer Bedeutung für Wandlungsfähigkeit zu identifizieren. Diese Vorgehensweise ist notwendig, um bei der darauf aufbauenden Klassifizierung hinsichtlich des Wandels keine relevanten Faktoren auszulassen. Das im Rahmen des Verbundprojekts entwickelte Konzept zur Identifikation und Analyse von Wandlungsfaktoren beinhaltet vier Stufen, welche im Folgenden genauer beschrieben werden. Durch die Betrachtung der Gestaltungsdimensionen Technik, Organisation und Personal erfolgt eine ganzheitliche Vorgehensweise, die die Grundlage für die Entwicklung eines Frühwarnsystems, eines Selbstbewertungstools und eines Modularisierungskonzepts bildet.


Bild 2: Bewertungsschema.

Stufe 1: Ermittlung der Einflussgrößen

Die erste Phase des Vier-Stufen-Modells beinhaltet die Aufnahme aller Einflussgrößen, die auf einen definierten Unternehmensbereich einwirken, um Vernetzungen und Einflüsse ermitteln zu können. Dieser Unternehmensbereich, im Folgenden als Pilotbereich bezeichnet, kann entsprechend der Definition eines Produktionssystems nach Eversheim [12] eine einzelne Arbeitsstation, einen Produktionsbereich oder das ganze Unternehmen umfassen. Die Größe des betrachteten Pilotbereichs sollte in Hinblick auf die Komplexität jedoch entsprechend ihrer Handhabbarkeit ausgewählt werden.

Die Durchführung der ersten Stufe erfolgt im Rahmen eines strukturierten Workshops. Hierbei ist es wichtig, bereits im Vorfeld einen Personenkreis aus Experten für den betrachteten Pilotbereich auszuwählen, um möglichst alle Einflussgrößen in den Dimensionen Technik, Organisation und Personal aufzunehmen.

Die aufgenommenen Einflussgrößen werden daraufhin in einem Einflussgrößendiagramm zusammengetragen. Um das Einflussgrößendiagramm gezielt erarbeiten zu können werden zwei Impulsfragen genutzt, die von den Experten im Rahmen des Workshops beantwortet werden:

1.    Wer oder Was nimmt Einfluss auf den betrachteten Bereich?

2.    Wie bzw. Womit nehmen diese Einfluss?

Die Ergebnisse aus der ersten Frage dienen einer annähernd vollständigen Sammlung von Einflussgrößen auf den Pilotbereich. Die zweite Frage zielt auf die Art des Einflusses (Indikator) auf den betrachteten Bereich ab und dient zudem als Grundlage für Stufe 3.
 

Stufe 2: Bewertung relevanter Einflussgrößen des Wandels

Die zweite Stufe des Modells umfasst neben der systematischen Zuordnung der Einflussgrößen zu den Wandlungsfaktoren Wandlungsauslöser, -treiber, -befähiger und -hemmnis auch eine Bewertung dieser.

Um eine Zuordnung der Einflussfaktoren möglichst verständlich und detailliert realisieren zu können, werden alle Wandlungsfaktoren mit je vier Kriterien beschrieben. Es ist zu beachten, dass auch Redundanzen möglich sind. Einflussgrößen, die bereits innerhalb dieser Stufe keiner Kategorie zugeordnet werden können, werden nicht weiter betrachtet.

In Bild 2 ist in diesem Zusammenhang exemplarisch das entwickelte Bewertungsschema dargestellt. Hierbei erfolgt eine Wertung der Kriterien nach den Einordnungen „trifft nicht zu“ (0 Pkt.), „trifft ansatzweise zu“ (1 Pkt.) oder „trifft zu“ (2 Pkt.). 

Auf Basis der daraus resultierenden Gesamtbewertung durch eine Summenbildung der Einzelbewertungen, lässt sich unter Verwendung der in Bild 2 abgebildeten Bewertungsbereichszuordnung eine Rangfolge der Einflussfaktoren erstellen. Hierzu lässt sich anhand der Gleichungen (Gl. 1) - (Gl. 9) ein Rangwert R berechnen, mithilfe dessen ein Ranking aller Einflussfaktoren ermittelt werden kann.

Der Rangwert R ermittelt sich hierbei aus der Summe der Einzelgesamtbewertungen der vier unterschiedlichen Wandlungsfaktoren (Auslöser, Treiber, Befähiger und Hemmnisse) und der höchsten vergebenen Bewertung MAX(A), multipliziert mit einem bewertungsspezifischen Gewichtungsfaktor, bei dem die Anzahl der betrachteten Wandlungsfaktoren (Anzahl=4) ebenso berücksichtigt wird.
 

Stufe 3: Erfassung von Indikatoren der relevanten Einflussgrößen

In Stufe 3 werden die als relevant ermittelten Einflussgrößen aus der zweiten Stufe entsprechend ihrer Rangfolge im Detail analysiert und entsprechende Indikatoren zugeordnet. Bei diesen Indikatoren handelt es sich beispielsweise um vorhandene Verfahren, Instrumente, Werkzeuge etc., die eine wesentliche Bedeutung für die Einflussgröße besitzen. Im Gegensatz zu den Ergebnissen aus Stufe 1 erfolgt die Prüfung und Ergänzung der ermittelten Indikatoren zusammen mit einem entsprechenden Experten, der in Zusammenhang mit dem betrachteten Einflussfaktor steht. Stufe 3 stellt im Gesamtmodell einen iterativen Prozess dar, da an dieser Stelle überprüft wird, ob wirklich alle relevanten Indikatoren erfasst wurden. Sofern dies nicht der Fall ist erfolgt ein Abgleich der Indikatoren und damit eine Rückführung zu Stufe 1 im Modell.
 

Stufe 4: Klassifizierung der Indikatoren in T-O-P

Alle in Stufe 3 erfassten Indikatoren werden in dieser Stufe den Gestaltungsdimensionen Technik, Organisation und Personal zugewiesen. Eine Zuordnung der Indikatoren zu den entsprechenden Einflussfaktoren und somit auch zu den vier Kategorien von Wandlungsfaktoren wird dabei immer berücksichtigt. Durch diese Vorgehensweise wird sichergestellt, dass keine Informationen verloren gehen. Bild 3 stellt das gesamte Vier-Stufen Modell grafisch dar.
 


Bild 3: Vier-Stufen Modell zur Identifikation und Analyse von Wandlungsfaktoren.

Ausblick zur Gestaltung von wandlungsfähigen Produktionssystemen

Die oben beschriebene Identifikation und Analyse der wandlungsbeeinflussenden Faktoren dient zur ersten Darstellung der IST-Situation eines Unternehmens bzw. eines Produktionssystems. Das Vier-Stufen Modell bildet somit den Grundbaustein für eine ganzheitliche Gestaltung wandlungsfähiger Produktionssysteme. Anhand der Ergebnisse aus der systematischen Betrachtung der Wandlungsfaktoren lassen sich Rahmenbedingungen (Befähiger und Hemmnisse) ableiten, die für eine gezielte und strukturierte Modularisierung grundlegend notwendig sind. Zudem bilden die erreichten Ergebnisse die Basis für das im Projekt „WamoPro“ angestrebte Frühwarnsystem (Auslöser und Treiber), um Wandlungsbedarfe rechtzeitig erkennen und dadurch proaktive Handlungsmaßnahmen entwickeln zu können. Desweiteren lassen sich die Resultate auf ein Selbstbewertungstool übertragen, welches den Unternehmen eine schnelle und einfache Beurteilung ihrer eigenen Wandlungsfähigkeit ermöglicht. Durch Zusammenführung der soeben beschriebenen Arbeitspakete erfolgt im Verbundprojekt „WamoPro“ eine konsistente Sammlung an Methoden und Werkzeugen zur ganzheitlichen Gestaltung wandlungsfähiger Produktionssysteme.


Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Forschungs- und Entwicklungsprojekts „WamoPro - Wandlungsfähigkeit durch modulare Produktionssysteme“  innerhalb der Fördermaßnahme „Standortsicherung durch wandlungsfähige Produktionssysteme“, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert und vom Projektträger Karlsruhe (PTKA), Bereich Produktion und Fertigungstechnologien (PFT), betreut wird.

Schlüsselwörter:

Wandlungsfähigkeit, Produktionssystem, Wandlungsfaktoren, Wandlungstreiber, Modularisierung

Literatur:

[1] Wiendahl, H.-P.; Nofen, D.; Klußmann, J. H.; Breitenbach, F.: Planung modularer Fabriken. München Wien 2005.
[2] Abele, E.; Reinhart, G.: Zukunft der Produktions – Herausforderungen, Forschungsfelder, Chancen. München 2011.
[3] Wiendahl, H.-P.: Wandlungsfähigkeit – Schlüsselbegriff der zukunftsfähigen Fabrik. In: Werkstattstechnik online 92 (2002) 4, S. 122-127.
[4] Hernandez, R.: Systematik der Wandlungsfähigkeit in der Fabrikplanung. Düsseldorf 2003.
[5] Berkholz, D.: Wandlungsfähige Produktionssysteme – der Zukunft einen Schritt voraus. In: Nyhuis, P.; Reinhart, G.; Abele, E. (Hrsg): Wandlungsfähige Produktionssysteme. Garbsen 2008.
[6] Spath, D.; Hirsch-Kreinsen, H.; Kinkel, S.: Organisatorische Wandlungsfähigkeit produzierender Unternehmen. Stuttgart 2008.
[7] Nyhuis, P.; Heger, C.: Bewertung der Wandlungsfähigkeit von Fabrikobjekten. Garbsen 2007.
[8] Nyhuis, P.; Reinhart, G.; Abele, E.: Wandlungsfähige Produktionssysteme. Garbsen 2008.
[9] Westkämper, E.; Zahn, E.: Wandlungsfähige Produktionsunternehmen – Das Stuttgarter Unternehmensmodell. Berlin Heidelberg 2009.
[10] Eversheim, W.: Flexible Produktionssysteme. In: Frese, E. (Hrsg): Handwörterbuch der Organisation. Stuttgart 1992.